Wohnungsbau: Normen und Standards reduzieren oder gar außer Kraft setzen?
Deutschland braucht schnell Wohnraum. Auslöser für diese Situation ist vorrangig der seit einigen Wochen stark zunehmende Strom von Flüchtlingen, den das Land täglich erfährt. Gemeinden, Städte und Länder sind zum großen Teil sowohl mit der kurz- als auch mittel- und langfristigen Unterbringung der Menschen überfordert, da Wohnungen nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind. In der Folge werden nicht mehr genutzte Gebäude reaktiviert oder Einrichtungen wie Sporthallen und Lagerstätten kurzerhand umfunktioniert. Ein weiteres und seit Längerem bestehendes Wohnraum-Problem herrscht in Ballungsgebieten. Hier wird ein Dach über dem Kopf zu haben immer teurer, sodass bezahlbare Wohnungen für Menschen mit nur geringen Einkünften oder in Ausbildung stehende Personen nebst Studenten rar geworden oder so gut wie nicht mehr vorhanden sind. Selbst Durchschnittsverdiener stehen hier bei der Wohnungssuche meist vor dem Ergebnis leer auszugehen. Insbesondere vor dem Hintergrund der großen Flüchtlingswelle haben sich einige Vertreter der Wohnungs- und Bauwirtschaft dafür ausgesprochen, Bauanforderungen für Wohnraum zu reduzieren oder außer Kraft zu setzen, um schneller und günstiger Wohnungen schaffen zu können. Hier stellt sich die Frage, ob beim Wohnungsbau Normen und Standards reduziert oder gar außer Kraft gesetzt werden sollten?
Pro
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat Ende August bei ihrer Sommerpressekonferenz mit dem Hinweis, dass man beim Umbau von Kasernen in Flüchtlingsunterkünfte womöglich auf Anforderungen im Brandschutz, bei der Höhe von Treppengeländern oder bei der Wärmedämmung verzichten müsse, auf einige wesentliche Kostentreiber im Wohnungsbau hingewiesen – und eine Kontroverse ausgelöst.
Dabei zielte sie vor allem auf den Umbau von bestehenden Gebäuden speziell für Flüchtlinge. Hier darf man zumindest die Frage stellen: In welchem (energetischen und technischen) Zustand wäre das Gebäude, wenn es weiter genutzt worden wäre? Wahrscheinlich nicht auf dem aktuellsten Stand von EnEV, Brand- und Schallschutz, etc. Kann man bei einer Zwischennutzung nicht tatsächlich deutsche Flexibilität walten lassen?
Daher stellt sich die Frage, welche Standards und Bauvorschriften zwingend und (über-)lebensnotwendig sind, wobei dies für den Brandschutz außer Frage steht. Gleichzeitig muss differenziert werden, ob bei einer Zwischennutzung Bestandsschutz gewährt werden kann, oder ob es sich um eine temporäre Unterbringung von Flüchtlingen oder um sozialen Wohnungsbau handelt. So könnte beispielsweise der Mindestschallschutz nach DIN 4109 umgesetzt werden. Bei der Haustechnik könnte die Einhaltung des EEWärmeG ausgesetzt oder die Anzahl der Haustechnikkomponenten reduziert werden, z. B. indem auf eine Lüftungsanlage verzichtet wird. In jedem Fall ist bei der Planung eine Nachrüstung unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu bedenken.
All diese Aspekte gelten zunächst für Gebäude im Bestand, die für die Flüchtlinge hergerichtet werden. Aber sie stellen sich auch für den Wohnungsneubau. Denn hier stehen wir ebenfalls vor enormen Herausforderungen. In Deutschland müssen bis 2020 jährlich rund 140 000 Mietwohnungen mehr als in diesem Jahr gebaut werden. Wir sprechen daher von 350 000 bis 400 000 Wohnungen jährlich, mindestens in den nächsten fünf Jahren. Diese Wohnungen fehlen insbesondere in Großstädten, Ballungszentren und Universitätsstädten. Gründe dafür sind u. a. die rasant wachsenden Flüchtlingszahlen ebenso wie der bestehende Nachholbedarf, der starke Zuzug in die Städte und die Zuwanderung aus der EU. Hinzu kommt, dass wir ein riesiges Wohnungsdefizit vor uns her schieben, das von Jahr zu Jahr größer geworden ist und heute rund 770 000 Wohnungen beträgt.
Diese immense Bauleistung werden wir nur durch ein Bündel von Maßnahmen stemmen können, wozu z. B. neben der Erhöhung der Afa, der Absenkung der Grunderwerbsteuer, der Verdoppelung der Mittel für den sozialen Wohnungsbau, einer Beschleunigung bei der Erteilung einer Baugenehmigung auch die Diskussion über technische Standards und Anforderungen gehört.
Ein Konzept für solche Maßnahmen muss sich darauf konzentrieren, schnell Wohnraum für viele Menschen zu schaffen. Gleichzeitig könnten diese Wohngebäude so konzipiert sein, dass sie zwar erst einmal niedrigere Standards z. B. beim Schallschutz oder der Barrierefreiheit haben, später aber möglichst einfach auf den dann geltenden Standard auf- bzw. nachgerüstet werden können. Ebenso muss nicht jeder Standard Bestandteil des Planungs- und Genehmigungsverfahrens sein. In Notzeiten kann auch eine Umweltverträglichkeitsprüfung auf das Notwendigste reduziert werden.
Wenn die Bundeskanzlerin deutsche Flexibilität anstelle deutscher Gründlichkeit fordert, dann sollten alle Anforderungen an neue Gebäude auf den Prüfstand. Ob Planung, Genehmigung und Standards, in allen Bereichen gilt: In Zeiten wie den jetzigen sollte man sich auf das Notwendige konzentrieren und so manchen Standard auch kritisch hinterfragen.
Contra
Wir brauchen in Deutschland mehr bezahlbare Wohnungen. Das erreichen wir aber nicht, indem wir z. B. Standards beim Brandschutz oder bei Schutz vor Hitze und Kälte aufweichen. Die Überlegungen, nun die Anforderungen der EnEV 2014, welche ab dem 1. Januar 2016 greifen, auszusetzen, sind weder wirtschaftlich notwendig noch politisch sinnvoll. Zunächst sollten wir zwei Dinge auseinander halten: Erstens den Bau von Notunterkünften, um akute Probleme zu lösen, und zweitens den zukunftsfähigen Neubau bezahlbaren Wohnraums.
Damit Kommunen zügig Notunterkünfte und Erstaufnahmeeinrichtungen schaffen können, brauchen wir die Umwidmung oder Nutzungsänderung von bestehenden bzw. leer stehenden Liegenschaften. Die notwendigen Ertüchtigungsmaßnahmen sind Bestandsmaßnahmen. Für diese gilt die EnEV-Verschärfung gar nicht. Zudem können Ordnungsbehörden im Einzelfall mit dem Verweis auf „unbillige Härten“ die Anwendung der bestehenden EnEV-Vorschriften aussetzen.
Doch auch um Neubautätigkeiten anzukurbeln, gibt es keinen Grund, von der bestehenden Rechtslage abzuweichen. Hier geht es darum, in den nächsten Jahren den wachsenden Bedarf an Wohnraum zu befriedigen. Jetzt Standards in diesem Bereich zu senken, führt zu einem Zwei-Klassen-Wohnen, und zwar ohne das Problem des fehlenden Wohnraums zu lösen. Politisch ist das Unfug. Und auch wirtschaftlich machen die Vorschläge keinen Sinn. Niedrige Standards machen das Bauen in der Regel nicht preiswerter, beschleunigen den Bau nicht und produzieren Leerstand. Das bedeutet:
Kälteschutz und Brandschutz beispielsweise machen nur einen Bruchteil der Gesamtkosten beim Hausbau aus. Laut einer Studie der ARGE e. V. sind es im Schnitt rund 5 %, die für Dämmarbeiten aufgewendet werden, wobei der überwiegende Teil hier Handwerkerleistungen sind, die auch bei niedrigen Dämmdicken anfallen. Darüber hinaus würden künftige Mieter mit höheren Energiekosten mehr als notwendig belastet werden.
Wie schnell gebaut wird, hängt nicht davon ab, ob der Handwerker dickere oder dünnere Dämmung anbringt. Auch die Planung der Gebäude beschleunigt sich nicht, weil niedrigere Standards angewendet werden.
Und in puncto Leerstand: Es geht darum, jetzt für die Zukunft zu bauen. Gebäude, die heute entstehen, sollten auch künftigen Ansprüchen genügen. Abstriche beim energetischen Standard würden jedoch minderwertigen Wohnraum entstehen lassen. Minderwertiger Wohnraum lässt sich aber weder verkaufen noch vermieten. Künftiger Leerstand wäre programmiert.
Statt Standards abzusenken schlagen wir deshalb vor:
- Private Wirtschaftskraft fördern. Sinn voll wäre eine degressive Abschreibung für Abnutzung (AfA) befristet dort wieder einzuführen, wo Wohnraum besonders dringend benötigt wird. Das würde Bauherren und Investoren jetzt steuerlich entlasten und zu zügigen Investitionen reizen.
- Bezahlbares Bauland schaffen. Statt zu Höchstpreisen zu verkaufen, sollten Grundstücke in staatlicher Hand vorrangig für Wohnprojekte verkauft werden dürfen. Es liegt nicht an den Baukosten, dass momentan wenig gebaut wird. Vielmehr ist in attraktiven Gegenden zu wenig Bauland vorhanden.
- Planungskosten senken. Ungefähr 20 % der Baukosten sind Gebühren und Planungskosten. Besonders in Wachstumsregionen und Ballungsgebieten haben diese sich in den vergangenen Jahren stark nach oben bewegt. Diese können gesenkt werden, wenn die Kommunen wieder ihren Aufgaben nachkommen. Heute werden bestimmte hoheitliche Planungs- und Versorgungsaufgaben auf den Investor übertragen und von ihm bezahlt.