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Lehre trotz Handicap

Florian Schulte kann nur eingeschränkt hören. Dennoch macht der 22-Jährige eine Ausbildung zum ­Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik.

Florian Schulte bei der Arbeit in der Bochumer Dachgeschosswohnung. Bevor die Heizkörper montiert und die Rohrleitungen verlegt werden, muss die alte Fußleiste weg.

Erst beim näheren Hinsehen sind die Hörgeräte, die ­Florian Schulte so sehr nützlich sind, zu erkennen.

Wenn Heizkörper aufgehängt werden, ist Koordination gefragt. Geselle Sascha Steinrücken (links) und Auszubildender Florian Schulte müssen ein Team bilden. Gute Verständigung ist dabei unerlässlich.

 

Wenn der Geselle bittet, den Bohrhammer aus dem Werkzeugschrank zu holen, versteht Florian Schulte nur „  orian,  ol ma  en  oh ha  e  aus  e  er  eu    ra k“. Der Grund: Er ist beidseitig schwerhörig. Das hindert ihn aber nicht daran, eine Lehre als Anlagenmechaniker für SHK-Technik zu machen. Sein Arbeitsalltag birgt so manche Hürde, wie die IKZ-PRAXIS bei einem Besuch vor Ort hautnah erfuhr.
Florian Schulte kniet mit einem Bein auf dem Boden, das andere hat er angewinkelt. Ein Kofferradio dudelt im Hintergrund. Es riecht leicht nach muffigem Altbau. Er setzt ein Nageleisen an die weiße Holzfußleiste und holt mit einem Fäustel aus. Schlägt mit Wucht mehrmals auf das Nageleisen. Metall auf Metall. Jeder Schlag ein ohrenbetäubender Knall, der sekundenlang nachhallt. Holz kracht und splittert in großen und kleinen Stücken. Immer wieder hämmert Florian auf das Nageleisen, das sich zwischen Wand und Fußleiste festgekeilt hat. Die Fußleiste scheint sich zu wehren, möchte nicht da weg, wo sie Jahrzehnte gesessen hatte: in einer Bochumer 58-m2-Dachgeschosswohnung eines Mehrfamilienmietshauses aus den Wirtschafswunderzeiten des letzten Jahrhunderts. Die Leute sind ausgezogen, haben alles mitgenommen. Was blieb, sind die in Pastell- und Orangetönen gehaltenen Raufasertapeten mit Bohrlöchern in den Wänden, Laminatboden in Fliesenoptik und ramponierte Türen.
Jetzt wird die Wohnung für die nächs­ten Mieter renoviert. Und dabei hilft Florian Schulte. Er ist Auszubildender in dem Bochumer SHK-Betrieb Sibbe. Die Elektro-Nachtspeicheröfen wurden inzwischen demontiert. An ihre Stelle sollen moderne Plattenheizkörper rücken, die von einer Brennwerttherme im Dachboden versorgt werden.
Im Dezember dieses Jahres hat Florian Abschlussprüfung. Mit seinen 22 Jahren könnte er bereits heute Geselle sein. Wenn das mit seinen Ohren nicht wäre. Er ist hörbehindert, wahrscheinlich von Geburt an. Genau lässt sich das heute nicht mehr sagen. „Festgestellt wurde das erst, als ich in die Grundschule kam“, erklärt er. Der Hals-Nasen-Ohrenarzt diagnostizierte bei ihm eine „mittlere bis schwere Schwerhörigkeit“. Das bedeutet, dass Florian Schulte alles sehr viel leiser hört. So, als würde ein Normalhörender dauernd Gehörschutz tragen.
Florian Schulte bekam also mit sechs seine ersten Hörgeräte und ging fortan auf eine Schule für Schwerhörige. Die Hauptschule schloss er 2009 mit der Klasse 10 ab, anschließend wechselte er auf die Fachoberschule. Weil ihm der Beruf des Anlagenmechanikers gefiel, wollte er die dreieinhalbjährige Ausbildung durchlaufen. Aber er fand keinen Ausbildungsbetrieb. Nur eine Praktikantenstelle – bei Martin Otto, dem Inhaber des SHK-Betriebs ­Sibbe, bei dem er heute arbeitet. „Er hat sich sofort ganz gut angestellt“, sagt Otto, „und da habe ich ihm nach ein paar Monaten einen vollwertigen Ausbildungsplatz angeboten.“ Da sagte Florian nicht nein.
Und hier, in der Bochumer Dachgeschosswohnung, hat Martin Otto seinem Auszubildenden Florian die Aufgabe übertragen, gemeinsam mit Geselle Sascha Steinrücken Plattenheizkörper aufzuhängen und mit einer Leitung aus Mehrschichtverbundrohr an einen Verteiler anzuschließen. Aber zunächst müssen die Fußleisten raus, weil dort die Rohre herlaufen sollen. Bevor Florian mit seinen Arbeiten begann, hatte ihm Sascha Steinrücken erklärt, was er tun sollte: „Hier müssen die Fußleisten ab. Aber vorsichtig. Der Parkettboden bleibt drin.“ Dabei verfolgt Florian Schulte die Lippenbewegungen seines Gesellen. Denn das reine Hören reicht oft nicht aus, den Schallwellen einen Sinn zu geben. Die Kombination aus Hören und Lippenlesen macht das aber möglich. Für einen Normalhörenden wie den SHK-Gesellen Sascha Steinrücken bedeutet die verbale Kommunikation mit einem Schwerhörigen – auch mit Hörgerät – eine Umstellung: „Ich muss langsamer, lauter und deutlicher sprechen und wenn möglich mich ihm zuwenden.“
Auf den ersten Blick unterscheidet sich Florian Schulte von keinem anderen SHK-Auszubildenden. Seine Hörgeräte sind kaum zu erkennen. Denn die hellbraunen Haare verdecken fast komplett die HdO-Geräte – die Hinter-dem-Ohr-Geräte. Hier sitzen das Mikrophon, Verstärker und Lautsprecher. Über einen dünnen Silikonschlauch werden die Töne über das Ohrpassstück in Florians Ohr übertragen. Das Ohrpassstück wurde speziell auf jedes seiner Ohren abgestimmt, indem ein Abdruck gemacht wurde. Jetzt schmiegen sie sich exakt Florians Ohrmuscheln an und können nicht herausrutschen. „Ich kann an dem Hörgerät die Dämpfung und die Lautstärke regulieren“, erklärt Florian Schulte die Einstellmöglichkeiten. Wenn er am Hörgerät das Knöpfchen drückt, werden die Hintergrundgeräusche gedämpft. Das erweist sich dann als besonders hilfreich, wenn viele Menschen durcheinander sprechen. Die Frequenzen im Haupt-Sprachbereich, die zwischen 1000 und 4000 Hertz liegen, hingegen verstärkt es. Mit dem zusätzlichen Hebel, der sich ebenfalls am HdO-Gerät befindet, kann Florian Schulte die Lautstärke verstellen.
Sprechen zwei Menschen miteinander, treffen die Worte in Form von Schall auf das Trommelfell, nachdem sie von der Ohrmuschel aufgenommen und den Gehörgang durchlaufen haben. Hinter dem Trommelfell schließt sich der Paukenraum an, in dem Hammer, Amboss und Steigbügel den Schall verstärken und weiter zur Hörschnecke übertragen. Diese bis dahin rein mechanische Schallweiterleitung findet hier ihr Ende. „In der Hörschnecke, nicht größer als eine Erbse, befinden sich die Haarsinneszellen, die die Schallwellen in elektrische Impulse umwandeln“, beschreibt Hörakustikmeisterin Karin L. im Hörzentrum Arnsberg deren Funktion. Nerven leiten diese Impulse weiter ins Gehirn.
Kann ein Schwerhöriger wie Florian Schulte mit einem Hörgerät genauso gut hören wie jemand ohne Höreinschränkung? „Jain“, sagt die Hörakustikmeisterin. Ein Hörgerät sei nur ein Hilfsmittel. „Selbst das beste und teuerste Modell kann das gesunde Ohr nicht ersetzen, aber mit hochwertiger Technik sind wir nah dran.“
Bis vor Kurzem hatte Florian Schulte noch zwei ältere Modelle, die nicht diesen Komfort boten. Sie funktionierten auch nicht immer einwandfrei. „Wenn ich ihn von der Seite oder von hinten angesprochen hatte, reagierte er oft gar nicht“, erinnert sich Steinrücken. Mit den neuen Geräten ist vieles besser geworden. Dennoch gibt es viele Situationen, z.B. bei lauten Hintergrundgeräuschen auf der Baustelle, die das Verstehen stark einschränken. Florian nimmt dann schon wahr, dass da gesprochen wird, kann aber nicht oder nur bruchstückhaft verstehen, was gesagt wird. Ihm ist mitunter nicht einmal klar, dass man gerade mit ihm spricht. Deshalb sollte man sich ihm zu erkennen geben, empfiehlt Florian Schulte, z.B. durch antippen oder Handzeichen, dass man etwas von ihm will.
Mittagspause. Sie besteht aus je einem Becher Kaffee, den Florian für beide in der gegenüberliegenden Tankstelle geholt hat. Die Monteure sitzen in der Küche auf dem Fußboden. Seine Beine hat er ausgestreckt, das eine über das andere geschlagen. Er stützt sich mit der flachen Hand seitlich ab, mit der anderen greift er nach seinem Becher. Trinkt davon und stellt ihn wieder auf den Laminatboden. „Wir haben für die Wohnung eineinhalb Tage Zeit“, sagt Sascha Steinrücke zu Florian. „Dann müssen die fünf Heizkörper aufgehängt, an die Rohrleitung angeschlossen und abgedrückt sein.“ Florian nimmt noch einen Schluck aus seinem Becher, dann stehen sie auf, um den ersten Heizkörper an seinen Platz unter dem Küchenfenster aufzuhängen. Die Konsolen hat Sascha ­Steinrücken bereits angeschraubt. Aber erst müssen noch die Fußleisten weg. Steinrücken sieht zu ­Florian und gibt ihm ein Zeichen mit einer seitlichen Kopfbewegung in Richtung Fens­terseite. „­Florian. Die Fußleiste.“ Der angehende Geselle verdreht die Augen und weiß, was er jetzt zu tun hat. Er geht ohne ein Wort zu sagen ins Wohnzimmer und holt Nageleisen und Fäustel.


Arten von Hörschwächen
Man unterscheidet zwei Arten der Schwerhörigkeit. Bei der Schallleitungsschwerhörigkeit liegen Störungen oder Erkrankungen im Außen- oder Mittelohr vor: Die mechanische Weiterleitung des Schalls findet nicht oder nur unzureichend statt. Gründe gibt es viele. Beispielweise kann bei einer angeborenen Erkrankung der äußere Gehörgang verwachsen sein, es kann das Trommelfell fehlen, Hammer, Amboss und Steigbügel können verknöchert sein.
Die zweite Art der Schwerhörigkeit wird Schallempfindungsschwerhörigkeit genannt. Es liegen Störungen im Innenohr (Hörschnecke) oder an den Nerven (die die Impulse weiter leiten) bzw. im Gehirn vor. Bei manchen Menschen tritt Die Schallleitungsschwerhörigkeit kombiniert mit der Schallempfindungsschwerhörigkeit auf.
Die meisten Personen, die mit einer Hörschwäche geboren werden, haben einen organischen Defekt am Innenohr. Anhand des Tonaudiogramms vermutet die Hörakustikmeisterin Karin L. auch bei ­Florian Schulte eine angeborene Schallempfindungsschwerhörigkeit. Sie kann mit Ohrgeräuschen und Schwindel verbunden sein. Florian Schulte ist jedoch davon verschont geblieben.
In Deutschland kommen jährlich etwa 1000 Kinder mit einer Hörschwäche oder Taubheit zur Welt.

 


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