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Erfordernisse für ein neues Energieversorgungssystem - Perspektiven für einen sicheren Netzbetrieb bei gleichzeitiger Reduktion des erforderlichen Netzausbaus

Mehr als drei Viertel aller Bundesbürger spricht sich – laut der am 28.08.2012 von dem Bundesamts für Naturschutz (BfN) vorgestellten Studie zum Naturbewusstsein – für den Ausbau der Erneuerbaren Energieanlagen aus. Gleichzeitig reagieren sie skeptisch gegenüber dem erforderlichen Netzausbau. Die Garantie der Netzsicherheit bestehender Transportnetze – bei gleichzeitiger Zunahme der Einspeisung dieser Anlagen – bedarf aber intelligenter Schutz,- Regelungs- und Überwachungssysteme, die in Echtzeit reagieren können. Auf kurzfristig entstehende extreme Veränderungen der Leistungsflüsse kann der Mensch nicht schnell genug reagieren. Hier sei an den 06.11.2006 erinnert. Gleichzeitig brach an diesem Tag in Teilen von Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien und Spanien für zwei Stunden die Stromversorgung zusammen.

Aufbau und Funktionsweise eines Hybridsimulators.

Beispiel: Multiagentensystem zur dezentralen Koordination von Leistungsflussreglern.

Großräumiges Überwachungssystem mithilfe GPS-gesteuerter zeitsynchronisierter Messgeräte.

 

Eine Forschergruppe von insgesamt neun interdisziplinär arbeitenden Professoren um Prof. Christian Rehtanz von der TU Dortmund, Leiter des Instituts Energiesysteme, Energieeffizienz und Energiewirtschaft (ie³) untersucht die Anwendung von schutz- und leittechnischen Applikationen für die europäischen Transportnetze der Zukunft, die als eine Art technisches Smart Grid zur zuverlässigen und sicheren Energieübertragung arbeiten können. Das Projekt FOR1511 läuft seit dem Jahr 2011 und wird von der DFG mit rund 1,9 Mio. Euro gefördert.
„Ganz Europa ist elektrisch miteinander verbunden. Hierbei überwacht jedoch jeder Netzbetreiber nur sein eigenes Gebiet in Echtzeit, sodass sich quasi ein Flickenteppich ergibt. Mit der neuen Weitbereichstechnik können großräumig sehr schnell Informationen über den Netzzustand ermittelt werden. Wir widmen uns in dem Projekt neuen Algorithmen, die die Basisinformationen der Messungen in nutzbare und zielführende Informationen umwandeln, die mithelfen das Netz effizienter zu nutzen“, so Christian Rehtanz.
Dieses Forschungsprojekt setzt ein  innovatives Großraumüberwachungssystem voraus. In einem Testlabor wird – unter Einsatz zeitsynchronisierter Messgeräte (PMU) – eine Simulation des europäischen Transportnetzes nachgebildet. GPS-gesteuert können deren Werte von weit entfernten Positionen zeitgleich in einem oder mehreren zentralen Servern gesammelt und dort verarbeitet werden. In der Praxis könnte man dieses System schon heute errichten. In einigen Länder, wie z.B. in China, wurde ein solches Überwachungssystem in der Praxis installiert.  

Energiemanagement durch Lastflussregelung

In dem bestehenden System des Verbundnetzes ist zurzeit eine zentrale, optimierte Überwachung aller Leistungsflüsse in Großräumen in Echtzeit nicht möglich. Auch besitzen die Leistungsflussregler (LFR) ein begrenztes Einflussgebiet, mit sich teilweise überlappenden Zonen. Die Mitarbeiter des Teilprojekts TP 3 gehen der Frage nach, wie in den bestehenden Netzen eine höhere Auslastung und Netzsicherheit erreichbar ist. Eine koordinierte, dezentrale Lastflusssteuerung mittels an den Leitungsknoten sitzenden  Reglern soll zu einer Optimierung der Übertragungskapazität im Normal- wie auch im Störfall beitragen.
Passive Agenten kommunizieren den aktiven Agenten fortwährend die von den PMU übermittelten Daten über den Zustand ihres Teilbereiches des Netzes. Nach ihrer Analyse treffen diese in einer ständigen Kommunikation mit anderen Agenten – wie in einem Bienenschwarm – in Echtzeit Entscheidungen über eine schnelle und zielgerichtete Ausregelung überlasteter Leitungen auf weniger gefährdete. Interessant ist dabei der dynamische Prozess der Entscheidungsfindung. „Die Agenten koordinieren ihre Handlungen so, dass stets der LFR mit dem höchsten positiven Einfluss die Leistungsentlastung vornimmt und kritische Leitungen besondere Priorität erhalten“, so Sven Christian Müller, Projektleiter der TP 3-Leistungsflussregelung. Es findet also eine Gewichtung statt, damit sich die Regler nicht gegenseitig negativ beeinflussen. In einer von dem Institut durchgeführten Simulation des Übertragungsnetzes der BeNeLux-Staaten wurde die dezentrale Koordinierung der LFR für den zukünftigen Einsatz im ENTSO-E Netz positiv getestet.

Insellösungen für das ENTSO-E

Die Netzbetreiber verfügen mittlerweile über eine sehr genaue Software für Wetterprognosen, dennoch besteht ein gewisser zeitlicher Fehler. So kann eine 5-minütige Abweichung von der vorausgesagten Windzunahme zu einer zusätzlichen Einspeisung von Strom aus Offshore-Windenergieanlagen im zweistelligen GW-Bereich führen, auf die man nicht vorbereitet ist. Zurzeit wird der Systemschutz mithilfe von Relais ausschließlich lokal durchgeführt. Die Mitarbeiter unter der Leitung von Dr. Kubis wollen die hohe Detaildichte der gemessenen Daten in einer PMU-geführten europaweiten Großüberwachung nutzen. Eine Gesamtbetrachtung der Transportnetze würde es ermöglichen, selektiv einzugreifen und eine Ausweitung der Störungen  auf weitere Bereiche des Verbundnetzes zu vermeiden.
Automatisierte intelligente Systeme, an denen in diesem Projekt gearbeitet wird, bieten die Möglichkeit, unmittelbar auf die Entstehung von Belastungen in Teilnetzen des Verbundnetzes zu reagieren und angemessene Regelungen, wie ein Ab- oder Zuschalten oder im Extrem die Bildung einer  Insellösung, zu treffen. Reicht die Ausregelung von Spannungsspitzen über die agentengeführten LFR nicht aus, bedarf es eines neuartigen Schutzsystems, des  Korridorschutzes.

IKT-Infrastruktur

Die wichtigsten Voraussetzungen für die Entwicklung und den zuverlässigen Betrieb dieser energietechnischen Softwarekomponenten sind nach wie vor die Fehler in der Prognose des Zeitpunktes von sehr hohen Einspeisungen ins Netz. Softwaresysteme, die eine gewisse Fehlertoleranz erlauben, auf der Ebene der Ausführungs- und Kommunikationsplattform, würden ebenso zu einer Ausregelung von Spitzen bei der Einspeisung beitragen und dieses Stromnetz sicherer gestalten. In dem Teilprojekt dieses FuE-Projekts mit Namen IKT-Infrastruktur wird daher untersucht, wie die Kommunikation der Softwarekomponenten weiter möglich sein kann, wenn einzelne Rechenknoten ausfallen oder Kommunikationsverbindungen  getrennt werden.

Der Hybridsimulator

Dieser stellt tatsächlich das wichtigste Teilprojekt dar. Die Energienetze und die Kommunikationsnetze aus dem interdisziplinären Forschungsprojekt werden gemeinsam in ihm getestet. Er dient als eine Plattform, in dem die verschiedenen Systeme und Applikationen der anderen Teilprojekte zusammengeschaltet sind. Das hat den Vorteil, dass die gegenseitigen Einflüsse der Systeme dann zusammen, quasi in einer Live-Verschaltung, nachgebildet und analysiert werden können. Als Konsequenz lassen sich neue Aussagen über die Interaktionen und das realistische zeitliche Verhalten der neuen Applikationen der Schutz- und Leitsysteme treffen.

Ausblick

Der Ansatz dieser verschiedensten Forschungsprojekte auf nationaler wie auf EU-Ebene liegt nicht darin, den erforderlichen Netzausbau zu ersetzen. Angestrebt wird eine zeitliche Pufferung bis zu seiner Fertigstellung. Eine weitgehend automatisierte, intelligente Regeltechnik, wie sie das FOR 1511 prüft, ermöglicht eine bessere und sichere Ausnutzung der Kapazitäten des europäischen Verbundnetzes.
Unvorhersehbare Überlastungen, z.B. durch fluktuierende, dezentrale Energieeinspeisungen, lassen sich so weitgehend ausregulieren. Smart Grids, auf der anderen Seite, greifen auf der Ebene der Niederspannungs- bzw. Mittelspannungs-ebene und  bieten nur eine Teillösung in der Frage, wie den Gefährdungen der Betriebsgrenzen durch die zunehmenden Bottom-Up-Einspeisungen der dezentralen Energieanlagen begegnet werden kann. So meinte Albert Moser, Leiter der RWTH Aachen: „Dieser Autarkie-Gedanke funktioniert mit viel Idealismus an ausgewählten ländlichen Regionen, nicht aber in einer Großstadt“ [...] „Smart Grids können deshalb den Ausbau der Übertragungsnetze nicht ersetzen“. Die Experten haben schon des Längeren auf den „Flaschenhals“ Netze bei der zunehmenden Einspeisung von Strom aus EE hingewiesen.
Auch sollte nicht an dem bestehenden, aufwendigem Genehmigungsverfahren – mit den UVP, Planfeststellungsverfahren etc. – gerüttelt werden. Genaue Prüfungen, in denen Ängste der Bürger und Einwände der Umwelt- und Naturschutzverbände nicht außen vor bleiben, sind essentiell für entsprechende Baumaßnahmen. So fordert Greenpeace-Energieexperte Niklas Schinerl eine Überprüfung und Überarbeitung des vorgelegten Netzentwicklungsplans. „Ziel des Prozesses darf nicht die Schaffung eines Maximalnetzes sein, sondern eine ökonomisch und ökologisch sinnvolle Einbindung der Erneuerbaren Stromerzeugung in das Übertragungsnetz.“ Und die Kritik richtet sich ja primär gegen Freileitungen, nicht gegen Erdkabel. Und tatsächlich halten sich die Baukosten die Waage.

Autor: Christian Finck


Phase Measurement Units (PMU)
PMU sind in der Lage, Spannungswinkel und die Frequenz der Leitungen im Netz zu messen.  Die Messwertprotokolle werden in einem oder mehreren zentralen Servern gesammelt und dort verarbeitet. Der Vorteil dieser Form der Überwachung liegt darin, dass die Messwerte von weit entfernten Stellen exakt (in Millisekunden) zeitgleich aufgenommen werden und die Daten recht einfach allen Netzbetreibern zur Verfügung gestellt werden können. In Smart Grids kann die Funktion von Phasor-Messgeräten in eigenständigen Messgeräten oder in anderen Geräten funktional realisiert werden. 


Dominoeffekt
Am 06.11.2006 musste eine Stromleitung über der Ems abgeschaltet werden, damit das Passagierschiff Norwegian Pearl passieren konnte. Wegen einer gleichzeitig hohen Windeinspeisung kam es im Folgenden zu einer Netzüberlastung, ein Netz nach dem anderen brach zusammen - wie ein Dominoeffekt. Die Gegensteuerung mit einer der Netzwerkmanager verlief viel zu langsam, um diese Ausbreitung zu verhindern. Die durchschnittliche Reaktionszeit des Menschen liegt bei 2 Sekunden.


 


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