Lückenschluss mit 70?
Für wahrscheinlich die meisten deutschen Handwerksbetriebe ähnelt sich die jetzige Situation – im Juni 2022 – mit der vor genau einem Jahr, und dem Jahr davor, und dem Jahr davor,... Lehrstellen können nicht besetzt werden. Sei es, dass die Bewerber fehlen, sei es ihre unzureichende Qualifikation, sei es ihre Haltung, mit der sie sich persönlich vorgestellt haben, oder, oder, oder. Ein seit ebenso etlichen Jahren immer wieder identifizierter Grund ist der Trend der Jugendlichen, eher ins Studium abzuwandern als einen Handwerksberuf zu erlernen. Das Ergebnis ist immer dasselbe: Am Ende des Tages fehlt jemand im Betrieb. Die angespannte Ausbildungssituation im Handwerk hält weiter an. Manche Experten warnen sogar, dass sie sich gar nicht mehr erholen könnte. Das hätte schwerwiegende Konsequenzen.
Wir wissen es: Das Handwerk generell braucht Fachkräfte, um die anstehenden Aufgaben der nahen und fernen Zukunft zu bewältigen. Wer um alles in der Welt soll die Wärmewende umsetzen? Die proklamierten Ziele sind mit dem jetzigen Personalstamm rein rechnerisch gar nicht zu schaffen. Selbst, wenn das SHK-Handwerk anderes einfach liegen lässt, z. B. Bad-Renovierungen. Und einige Wissenschaftler sind der festen Überzeugung, dass die Klimaneutralität bis 2045 nicht ausreiche, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. 2035 wäre notwendig. Wir stecken in einem Dilemma. Wir brauchen Personal.
Als vor Jahren die Rente mit 67 ausgerufen wurde, gab es bereits Stimmen, die für ein Renteneintrittsalter von 70 Jahren plädierten. Diese Forderungen finden sich derzeit in etlichen Medien. Die höhere Lebenserwartung im Vergleich zu früher müsse sich in der Lebensarbeitszeit widerspiegeln, so ein Argument. Das scheint durchaus eine Lösung zu sein, um die Rentenschatulle auf Dauer zu schonen. Doch welcher Handwerksarbeitnehmer kann mit 70 noch auf Baustellen arbeiten? Seine Produktivität wird massiv sinken, auch die Krankheitstage werden naturgemäß mehr – die Zeche zahlt der Arbeitgeber. Die Heraufsetzung des Rentenalters ist ohne Kompensation nicht geeignet.
Das Handwerk muss die Jugend mobilisieren. Es bedarf einer über Jahre andauernden enormen Kraftanstrengung, die bauorientierten Handwerksberufe so herauszuputzen, dass Jugendliche hier einsteigen wollen. Es gleicht einem Marathonlauf – bei dem sofort durchgestartet und sogar das Tempo erhöht werden muss. Und doch besteht ein Unterschied: Dieser Marathonlauf darf nicht als Wettbewerb der einzelnen Berufe untereinander gesehen werden. Es ist eine Teamaufgabe, die nur gemeinsam gewonnen werde kann.
Detlev Knecht
stv. Chefredakteur IKZ-HAUSTECHNIK
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