IKZ-HAUSTECHNIK, Ausgabe 14/2003, Seite 38 f


INTERVIEW


Normenhaft und DIN-artig

Normen als Chance für Veränderungen

 
 
 
 
Umfeld einer Waschtischanlage für gehandicapte Personen: Bewegungsfreiheit unterhalb des Waschtisches, Greifhilfen und eine kippbare Spiegelkombination etc. unterstützen die Funktionalität.

Fachleute werden beim Lesen des Titels erst einmal ins Grübeln geraten, begreift der Spezialist aus der Erfahrung heraus das Thema DIN und Normen doch eher als Barriere, als Blockade für Entwicklungen im Markt. Das diese Sichtweise nicht immer den Erfordernissen Rechnung trägt, zeigt sich im Tätigkeitsfeld der barrierefreien und komfortausgerichteten Produktentwicklung der Hersteller. Die Vielfalt und Komplexität der Problemstellungen behinderter, gehandicapter und älterer Menschen bedarf der eingehenden fachlichen Beleuchtung unterschiedlichster Marktpartner und Anwender. Bernd Steltner, Leiter HEWI Service-Center-Barrierefrei, führte über die Normung barrierefreier Produkte ein Gespräch mit der IKZ-HAUSTECHNIK-Redaktion.

IKZ-HAUSTECHNIK: Was bedeutet Normenarbeit für die Industrie?

Steltner: Die Mitarbeit in den Normenausschüssen des DIN ist für uns wichtig. Dort kommen alle zusammen, die Interesse am Thema haben, Ihr Wissen einbringen wollen und die Zukunft mitgestalten. Darunter sind Vertreter der unterschiedlichen Interessengruppen, wie Verbände, Versicherungen, Industrie, Prüfinstitute, Universitäten und Fachhochschulen, Architekten, Designer und nicht zuletzt Betroffene.

IKZ-HAUSTECHNIK: Kann denn bei dieser Mischung überhaupt etwas Positives herauskommen?

Steltner: Erst die Sichtweisen der unterschiedlichen Disziplinen bringt ein Thema voran. In den Gesprächen stelle ich immer wieder erstaunt fest, wie breit insbesondere das Thema "Barrierefreie Produkte - Grundsätze und Anforderungen" angelegt ist an dem ich mitarbeite. Gemeinsam werden Regeln für die Gestaltung barrierefreier Produkte festgelegt. Dabei hat jeder seine speziellen Anforderungen: von Fahrkartenautomaten über Bügeleisen zum Handy. Niemand allein kann alle diese Anforderungen überblicken oder erfassen.

IKZ-HAUSTECHNIK: Wie bewerten Sie dann das Ergebnis?

Steltner: Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Es ist eine Grundlage für die Gestaltung barrierefreier Produkte herausgekommen, ein Leitfaden für alle, die sich mit der Entwicklung von Produkten beschäftigen: Designer, Architekten, Innenarchitekten und Ingenieure.

IKZ-HAUSTECHNIK: Was ist der Inhalt dieses Leitfadens?

Bernd Steltner, Leiter HEWI Service-Center-Barrierefrei.

Steltner: Es werden die Fähigkeiten der Menschen beschrieben, um daraus Anforderungen an Produkte zu entwickeln. Zu den beschriebenen Fähigkeiten der Menschen gehören unter anderem sensorische, visuelle, auditive, haptische, kognitive oder motorische - und werden soweit möglich mit Werten hinterlegt.

IKZ-HAUSTECHNIK: Können Sie das bitte näher erläutern. Was bedeutet das?

Steltner: Nehmen wir beispielsweise die visuellen Fähigkeiten, die bei der Gestaltung barrierefreier Produkte zu beachten sind. Dazu gehören Sehschärfe, Akkommodations- und Adaptionsgeschwindigkeit, die Bereiche des Gesichtsfeldes, die Größen des Erkennraumes, die Farbfehlsichtigkeit und die Blendempfindlichkeit.

Alle diese Werte informieren die Gestalter und Ingenieure darüber, was Menschen können und mit welchen Einschränkungen sie zu kämpfen haben. Erst dann kann er Produkte entwickeln, die nicht ausgrenzen und einem größeren Nutzerkreis zugute kommen, als es bisher der Fall war. Wir alle kennen schließlich genügend Beispiele für schlechte Produktgestaltung.

IKZ-HAUSTECHNIK: Kann man alle Fähigkeiten der Menschen in Zahlen fassen?!

Steltner: Nein, es gibt einige Bereiche, die noch nicht soweit erforscht sind, dass grundlegende Werte vorhanden sind. Wenn das der Fall ist, wird zumindest beschrieben, worauf es ankommt. Ein Beispiel: für die haptischen Fähigkeiten im Bereich des Fühlens und der Sensibilität gibt es keine Werte. Aber der Gestalter erhält die Information, dass er von vermindertem oder erhöhtem Schmerzempfinden, Druckempfinden, oder Wärme-, Kälteempfinden ausgehen muss.

IKZ-HAUSTECHNIK: Gut, nehmen wir an, er kennt diese Anforderungen. Aber wie können daraus Produkte entstehen?

Steltner: Aus den Fähigkeiten der Nutzer werden konkrete Anforderungen an Produkte abgeleitet. Der Entwickler wird also nicht mit der Beschreibung der Nutzerfähigkeiten allein gelassen, sondern er erhält konkrete Hinweise, worauf zu achten ist. Nehmen wir die Anforderungen an die visuellen Fähigkeiten. Es werden Anforderungen an Leuchtdichte, Kontrast, Farbe, Reflexion, Glanz, Blendung, Größe von Schriftzeichen, Anzeigen und Displays konkret beschrieben, um nur einige zu nennen. Wenn sich also ein Entwickler mit den nutzerbezogenen Fähigkeiten auseinandergesetzt hat und mit den daraus abzuleitenden produktbezogenen Anforderungen, dann sollte er in der Lage sein, sein Produkt barrierefrei zu gestalten.

IKZ-HAUSTECHNIK: Ist das nicht sehr optimistisch gedacht, bedenkt man die Vielfalt der Kriterien?

Steltner: Optimismus gehört zu dieser Arbeit. Aber es wird sich auszahlen. Die "ZEIT" bietet ein Poster mit dem Titel "Der Kampf gegen die Dummheit hat erst begonnen" und zeigt ein Hinweisschild einer Toilette für Rollstuhlfahrer, die nur über eine Treppe zu erreichen ist. Für Produkte gibt es ähnliche Beispiele: Schalter, die für rheumatische Hände nicht bedienbar sind, Armaturen, deren Funktion nicht zu erkennen ist oder Automaten, die den Nutzer verzweifeln lassen.

IKZ-HAUSTECHNIK: Wie lange dauerte die Entwicklung von Normen?

Steltner: Eine Regel gibt es nicht dafür. Es ist abhängig davon, wie intensiv die Arbeit betrieben wird. Die Entwicklung unseres DIN-Fachberichts hat etwa drei Jahre gedauert und bedurfte des Engagements einiger Pioniere zum Thema, zu denen insbesondere Prof. Phillipen und die Architektin Christa Osbelt gehören.

IKZ-HAUSTECHNIK: Werden Produkt- und Baunormen tatsächlich in der Praxis angewendet?

Steltner: Es gibt seit 2002 ein Gleichstellungsgesetz und es gibt im Grundgesetz den Paragraphen 3, Absatz 3: Niemand darf wegen seiner Behinderung ausgegrenzt werden. Es gibt die DIN Normen, die in das Baurecht der Bundesländer übernommen wurden. Und trotz allem ist der Weg noch weit. Aber: Steter Tropfen höhlt den Stein. Ich sehe die DIN-Arbeit als wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Dazu gehört, dass die Entwickler endlich die Normen als Chance der Veränderung begreifen und nicht als Einschränkung ihrer Arbeit ansehen. Unsere Gesellschaft altert und wir müssen sehr schnell reagieren. Was einem alten Menschen nutzt, nutzt allen anderen ebenfalls.

IKZ-HAUSTECHNIK: Was bedeutet das für die Unternehmen der Sanitärbranche?

Steltner: Zunächst ist es wichtig sich umfassend über das barrierefreie Wohnen zu informieren und zu schulen. Dazu gehört, sich mit Krankheitsbildern vertraut zu machen, die Scheu im Umgang mit alten und behinderten Menschen zu verlieren, Bauherren kompetent und zukunftsgerichtet zu beraten, den Umgang mit den Kranken- und Pflegekassen zu erlernen, die Normen und Vorschriften zu kennen sowie gute barrierefreie Produkte auszuwählen und zu empfehlen. Kurz: Kompetenz in einem bisher ungewohnten Planungsbereich aufzubauen. Das Handwerk hat die besten Voraussetzungen diese Marktchance zu nutzen: den direkten Zugang zum Kunden und die Bau- und Montagekompetenz für sicherheitsrelevante Produkte.


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