IKZ-HAUSTECHNIK, Ausgabe 23/1999, Seite 76 ff.


RECHT-ECK


Stichwort des Jahres

Scheinselbständigkeit

Im Rahmen der zum 1. Januar 1999 in Kraft getretenen umfangreichen Gesetzesänderungen sind besonders die Änderungen im Bereich der Scheinselbständigkeit von großer Bedeutung. Durch das Gesetz zu Korrekturen in der Sozialversicherung und zur Sicherung der Arbeitnehmerrechte vom 17. November 1998 sollten insoweit genauere gesetzliche Voraussetzungen geschaffen werden, um Scheinselbständige in die Sozialversicherung, insbesondere in die Rentenversicherung, einzubeziehen.

Vorbemerkungen

Sogenannte Scheinselbständigkeit liegt vor, wenn nur "formell" Selbständige als "Ein-Mann-Unternehmen" Tätigkeiten ausführen, die ansonsten üblicherweise von Mitarbeitern im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erbracht werden. Das in den letzten Jahren verstärkte Auftreten Scheinselbständiger liegt in erster Linie daran, daß der Auftraggeber dabei die Arbeitgeberanteile zur Sozial- und Arbeitslosenversicherung sowie Lohnzahlung im Krankheits- und Urlaubsfall einspart und - nicht zuletzt - kein Kündigungsschutz greifen kann. Der Umstand, daß sich bisher bei der Feststellung einer vorgetäuschten Selbständigkeit, also der Sozialversicherungspflichtigkeit, in der Praxis dadurch oftmals Schwierigkeiten ergaben, daß die Abgrenzung auf der Grundlage einer Vielzahl von der Rechtsprechung entwickelter Hilfskriterien durch eine Gesamtschau der Tätigkeit vorzunehmen war, hat den Gesetzgeber dazu veranlaßt, das als negativ erkannte sozialpolitische Phänomen per Gesetz stärker zu bekämpfen.

Das in Rede stehende Gesetz dient der Begründung nach dem Ziel der Mißbrauchsbekämpfung und soll den Sozialversicherungsträgern die Bekämpfung der sog. Scheinselbständigkeit erleichtern. So soll nach Einschätzung der Spitzenverbände der Sozialversicherung erreicht werden, in Abgrenzung zu einer selbständigen Tätigkeit, die abhängig Beschäftigten besser zu erkennen, die nur zum Schein als Selbständige auftreten. Typische Vertreter der Sparten, die von der Neuregelung erfaßt werden, sind zum Beispiel selbständige Spediteure, die ihre Fahrzeuge mit den Farben und mit der Aufschrift ihres Auftraggebers versehen müssen, Versicherungsvertreter, die keine Konkurrenzprodukte anpreisen dürfen, Kellner, die Getränke an der Theke kaufen und beim Weiterverkauf an den Gast nur den Hauspreis kassieren oder EDV-Experten, die ihren Schriftwechsel auf Briefbogen und im Namen ihres Auftraggebers führen.

Sie alle dürften für die Sozialversicherung als sog. Scheinselbständige eingestuft werden, wobei allerdings stets der Einzelfall individuell zu prüfen ist. Da die sich aus der Neuregelung ergebenden Konsequenzen aber keineswegs auf die vorstehend beispielhaft genannten Berufszweige beschränkt sind, haben sie auch Auswirkungen im Handwerk, den Gewerken der technischen Gebäudeausrüstung, und daher ist diese Thematik auch insoweit von einigem Interesse.

Scheinselbständige und Arbeitnehmerähnliche

Problematik der Neuregelung

Die zur Bekämpfung der Scheinselbständigkeit (§ 7 Abs. 4 SGB IV) und zur Einbeziehung arbeitnehmerähnlicher Selbständiger in die Rentenversicherungspflicht (§ 2 Nr. 9 SGB VI) aufgenommenen Vorschriften werfen für die betriebliche Praxis doch eine ganze Reihe von (noch nicht beantworteten) Fragen auf.

Grundsätzlich wird nach der seit dem 1. Januar 1999 geltenden Regelung zwischen zwei Gruppen unterschieden:

- Scheinselbständige Beschäftigte

- Arbeitnehmerähnliche Selbständige Scheinselbständig ist nach dem neuen Gesetz:

- wer regelmäßig und im wesentlichen nur für einen Auftraggeber arbeitet,

- wer in seiner Firma Chef und Produzent in Personalunion ist und neben Familienangehörigen keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigt,

- wer eine arbeitnehmertypische Beschäftigung ausübt, also Weisungen des Auftraggebers unterliegt und in dessen Arbeitsorganisation eingebunden ist und

- wer nicht unternehmerisch am Markt auftritt.

Bei Vorliegen von nur zwei der vorstehend genannten Kriterien wird vermutet, daß ein Beschäftigungsverhältnis im sozialversicherungsrechtlichen Sinne vorliegt, so daß derjenige als Mitglied der gesetzlichen Rentenversicherung und der anderen Sozialversicherungszweige gilt (ausgenommen von dieser gesetzlichen Vermutung sind lediglich Handelsvertreter, die im wesentlichen frei ihre Tätigkeit gestalten und über ihre Arbeitszeit bestimmen können).

Der Betroffene bzw. sein Auftraggeber hat die Möglichkeit, diese Vermutung zu widerlegen. Gelingt dies nicht, wird die Person sozialversicherungsrechtlich als abhängig Beschäftigter behandelt, mit der Folge der umfänglichen Sozialversicherungspflicht - dann hat auch der Auftraggeber wie ein Arbeitgeber den Sozialversicherungsbeitrag zur Hälfte zu zahlen.

Nicht scheinselbständig, sondern arbeitnehmerähnlicher Selbständiger ist, wer die beiden erstgenannten Kriterien (zu den Ziffern 1. und 2.) erfüllt, aber nachweisen kann, daß er tatsächlich selbständig ist. Dieser Personenkreis, der keine versicherungspflichtigen Arbeitnehmer beschäftigt und in der Regel nur einen Auftraggeber hat, wird in den Schutz der gesetzlichen Rentenversicherung einbezogen, bleibt in den anderen Zweigen der Sozialversicherung allerdings versicherungsfrei. Im Gegensatz zu den Scheinselbständigen können aus dieser Gruppierung 50jährige und ältere sowie Personen mit einer ausreichenden Privatversicherung beantragen, daß sie von der Versicherungspflicht befreit werden (ein entsprechender Antrag mußte ursprünglich bis zum 30. Juni 1999 gestellt werden).

Obwohl die Neuregelung seit Anfang des Jahres gilt, kann derzeit noch nichts abschließendes zur Auslegung der vier oben aufgezählten Kriterien der Scheinselbständigenbeschäftigung gesagt werden. Zudem besteht auch Unklarheit darüber, wie die Vermutung eines sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnisses bei Vorliegen von zwei der vier Kriterien widerlegt werden kann. Außerdem wird die Abgrenzung von scheinselbständig Beschäftigten und arbeitnehmerähnlichen Selbständigen nur sehr schwer möglich sein.

Gerade infolge mangelnder einschlägiger Rechtsprechung läßt sich noch keine konkrete Aussage dazu treffen, welcher Personenkreis tatsächlich von den Neuregelungen erfaßt wird. Da im Einzelfall aber (noch) die Gefahr besteht, daß bei Feststellung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung möglicherweise Beiträge für zurückliegende Zeiten (vor allem vom Auftraggeber/Arbeitgeber!) nachgezahlt werden müssen, bedarf es einer näheren Beschäftigung mit den neuen Regelungen.

Umsetzung des neuen Rechts

Wie die Neuregelungen konkret gehandhabt werden und mit welchen Konsequenzen diejenigen zu rechnen haben, für die Beschäftigte arbeiten, die die vorstehend aufgezählten Kriterien (z.T.) erfüllen, läßt sich nur schwer einschätzen, da bislang noch keine Rechtsprechung etwa zur Anwendung des § 7 Abs. 4 SGB IV existiert. Die Spitzenverbände der Krankenkassen, der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger und die Bundesanstalt für Arbeit haben die sich aus den neuen gesetzlichen Regelungen für das Versicherungs-, Beitrags- und Melderecht der Sozialversicherung (ohne Unfallversicherung) ergebenden Auswirkungen beraten und die erzielten Ergebnisse im Rahmen einer ausführlichen Verlautbarung bereits zu Jahresanfang zusammengefaßt (abgedruckt in "Betriebs-Berater" 1999, S. 471 ff.).

Anläßlich einer Erörterung im Bundesarbeitsministerium präzisierten die Spitzenorganisationen der Sozialversicherung ihre Leitlinien zur Anwendung des § 7 Abs. 4 SGB IV im Rahmen einer weiteren Verlautbarung im Juli d.J. (abgedruckt in "Betriebs-Berater" 1999, S. 1500 ff.). Diese Richtlinien, die die Rechtsauffassung der Sozialversicherungsträger widerspiegeln und auf eine einheitliche Entscheidungspraxis zielen, haben keinen Gesetzesrang. Dennoch ist mit Blick gerade auf diese Vorgaben von seiten der Sozialversicherungsträger - ungeachtet der anhaltenden politischen Diskussion um Sinn und Zweck der neuen Vorschriften - davon auszugehen, daß das neue Recht konsequent angewandt wird. Deshalb dürfte eine kritische Überprüfung der Auftragsverhältnisse angezeigt sein, die möglicherweise die vom Gesetz genannten Kriterien erfüllen.

Die Vermutungstatbestände

Gerade im Hinblick auf die Abgrenzung zu den sog. freien Mitarbeitern bedarf es doch einiger Überlegungen zu den Kriterien, anhand derer Scheinselbständigkeit gesetzlich vermutet wird:

Tätigkeit für einen Auftraggeber

Die Spitzenverbände der Sozialversicherungsträger vertreten die Auffassung, daß derjenige "im wesentlichen" nur für einen Auftraggeber iSv. § 7 Abs. 4 Nr. 2 SGB IV tätig ist, der aus dieser Tätigkeit 5/6 seiner gesamten Einkünfte erzielt.

Von anderer Seite wird diese "Wesentlichkeit" in Anlehnung an das Heimarbeitsgesetz erst bei einem Anteil von 85% und mehr am Gesamtumsatz bejaht. Dabei ist auf die gesamte Erwerbstätigkeit abzustellen, so daß auch die Umsätze von nicht vergleichbaren Tätigkeiten zu berücksichtigen sind.

Tätigkeit für mehrere Auftraggeber

Wer iSd. neuen Regelung "berechtigt" ist, für mehrere Auftraggeber tätig zu sein, erfüllt den Tatbestand der Vermutung des § 7 Abs. 4 Nr. 2 SGB IV nicht. Wenn auf weitere Auftraggeber "verzichtet" wird, dürfte dies nicht die Versicherungspflicht zu Lasten des Auftraggebers auslösen; denn eigentlich macht der Auftragnehmer insoweit ja nur von seiner unternehmerischen Freiheit Gebrauch. Bedenken ergeben sich in diesem Zusammenhang allerdings aus der Gesetzesbegründung, nach der maßgeblich auf die faktische Bindung abgestellt werden soll.

Beschäftigung von Angehörigen

Da ein abhängig Beschäftigter anders als ein Selbständiger die von ihm zu erbringende Arbeitsleistung in der Regel nicht auf andere Personen übertragen kann, sondern regelmäßig persönlich zu erbringen hat, soll die Nichtbeschäftigung von versicherungspflichtigen Arbeitnehmern ein wichtiges Merkmal für das Vorliegen einer Beschäftigung sein - und schließt nach dem Gesetz die Beschäftigung von nahen Familienangehörigen die Rechtsvermutung einer versicherungspflichtigen Beschäftigung nicht aus. Im Falle der Beschäftigung von Angehörigen einen Mißbrauch zu vermuten, könnte im Widerspruch zum verfassungsmäßig garantierten Gleichheitssatz stehen. Unter Hinweis auf die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, es verstoße gegen Art. 6 des Grundgesetzes, Ehegatten gegenüber Ledigen dadurch zu diskriminieren, daß ernsthaften Arbeitsverträgen zwischen Ehegatten die steuerrechtliche Anerkennung versagt werde, wird von verschiedenen Seiten gleiches auch für die sog. Statusbeurteilung des Arbeitgeber-Ehegatten gefordert und die Ausklammerung familienangehöriger Arbeitnehmer für verfassungswidrig gehalten.

Arbeitnehmertypische Arbeitsleistungen

Das Kriterium der Erbringung von Arbeitsleistungen, die für Beschäftigte typisch sind, ist vor allem in den Fällen von Bedeutung, in denen ein Auftraggeber neben fest angestellten Personen auch freie Mitarbeiter beschäftigt. Läßt sich bei der Gesamtwürdigung der Tätigkeit des freien Mitarbeiters im Vergleich zu den fest angestellten Personen kein wesentlicher Unterschied feststellen, soll dies für ein Beschäftigungsverhältnis sprechen. Die für das Beschäftigungsverhältnis charakteristischen Eigenschaften der Weisungsabhängigkeit und der Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers sind zur Verdeutlichung des Merkmals "für Beschäftigte typische Arbeitsleistungen" im Gesetz ausdrücklich erwähnt. Die gesetzliche Vermutung müßte dadurch widerlegt werden können, daß der freie Mitarbeiter über eine eigene Gewerbekarte verfügt und andere Auftraggeber hat, was besonders dann gilt, wenn es um die Erledigung zeitlich befristeter Aufträge in arbeitsintensiven Spitzenzeiten geht. Insofern wird die Auffassung vertreten, daß der Auftragnehmer, der in solchen Situationen "unternehmerische Entscheidungsfreiheit genießt und unternehmerische Chancen wahrnehmen kann" (so die Gesetzesbegründung) auch dann selbständig sein kann, wenn er in einer Arbeitsorganisation Aufgaben übernimmt, die bislang von einem abhängig Beschäftigten verrichtet wurden - immer vorausgesetzt, er unterliegt bei dieser Aufgabenwahrnehmung nicht den laufenden Arbeitgeberanweisungen.

Schlußanmerkung

Wirklich festzustehen scheint nach allem nur, daß der Scheinselbständige als Arbeitnehmer in allen Zweigen sozialversicherungspflichtig ist und dem Schutz des Arbeitsrechts unterliegt - und daß die Sozialversicherungsträger nach den gesetzlichen Vorgaben nun wohl genauer hinschauen werden, wenn es um die Überprüfung des Verdachts "Scheinselbständigkeit" geht. Wie der aktuellen Presse zu entnehmen ist, muß bei dieser Gesetzesänderung das letzte Wort noch nicht gesprochen sein und scheint zumindest im Hinblick auf etwaige Ausnahmen noch einiges möglich. Das Bundesarbeitsministerium hat erklärt, daß Vorschläge für Änderungen, die eine Expertenkommission unter dem Vorsitz des früheren Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts, Dieterich, erarbeitet hat, zur Zeit in einen Gesetzentwurf eingearbeitet würden.

Mit den Änderungen solle vor allem der heftigen Kritik der Wirtschaftsverbände Rechnung getragen werden, die immer wieder beklagt hatten, daß z.B. Existenzgründer behindert würden. Wie zwischenzeitlich verlautet, soll es Nachbesserungen u.a. in folgenden Bereichen geben:

- Jeder, der sich als Gründer selbständig macht, soll drei Jahre von Pflichtbeiträgen zur Rentenkasse ausgenommen sein.

- Bei der Abgrenzung von selbständiger und scheinselbständiger Arbeit hat die Kommission vorgeschlagen, den Kriterienkatalog zu verändern: Statt der vorstehend genannten vier Kriterien sollen künftig deren fünf gelten; während bisher von Scheinselbständigkeit ausgegangen wird, wenn zwei dieser Kriterien erfüllt sind, soll diese Annahme künftig erst dann gelten, wenn drei der fünf Kriterien erfüllt sind. Dazu zählt derjenige, der keine eigenen Angestellten - auch Familienangehörige - mit mehr als 630,- DM Monatsverdienst beschäftigt. Wer nur für einen Auftraggeber arbeitet, ist nach den Vorstellungen der Kommission nicht automatisch scheinselbständig. Entscheidend soll vielmehr sein, ob der Betroffene nur für diesen Arbeitgeber arbeiten "kann und darf".

- Die Entscheidung, ob ein Beschäftigter abhängig arbeitet und damit versicherungspflichtig ist, soll künftig die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte ausschließlich und abschließend treffen. Bis zu einem solchen Entscheid müssen keine Pflichtbeiträge an die Sozialkassen gezahlt werden - auch nicht nachträglich, so daß nach Aussage des Kommissionsvorsitzenden Dieterich keine Nachzahlungen drohen.

Ob und inwieweit die Nachbesserungen der Neuregelung im vorgenannten Umfang, wie geplant, mit Rückwirkung auf den 1. Januar 1999 zum 1. Januar 2000 inkrafttreten, läßt sich nicht mit Sicherheit absehen. Auch insofern gilt wohl des Kaisers Motto: "Schau’n mer mal".


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